Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz, Chefredakteur Industry des atp magazins, erklärt, warum er nicht mehr für alles Verständnis hat.
„Wir bitten um Verständnis“
Wer während der NAMUR-Hauptsitzung im vergangenen Jahr auf diese Herrentoilette ging, hatte keine großen Auswahlmöglichkeiten, denn neben den Urinalen war von den drei WC-Kabinen, wie auf dem Bild zu sehen, nur eine einzige im Einsatz. Die anderen beiden waren defekt. Das ist zwar ärgerlich, aber zu verschmerzen. Das nachfolgende Beispiel spielt dagegen in einer anderen Liga:
Am Bahnhof meines Wohnorts hing ein Schild: „Dieser Aufzug wird ab dem … wegen Umbaumaßnahmen für ca. vier Monate nicht zur Verfügung stehen. Wir bitten um Verständnis.“
Nein, es tut mir leid, ich habe dafür kein Verständnis.
Ich weiß, dass die alten Aufzüge störanfällig sind und ein Austausch nötig ist. Ich weiß auch, dass es Lieferengpässe und Fachkräftemangel gibt. Aber es ist kein spontaner Ausfall, sondern eine geplante Maßnahme. Man kann alle Materialien in einem Zwischenlager sammeln und erst anfangen, wenn alles da ist. Man kann das Personal langfristig planen. Man kann zwei Schichten vorsehen.
Es gibt viele Wege, so ein Projekt in maximal sechs Wochen zu realisieren: Eine Woche für den Abriss, zwei Wochen Rohbaumaßnahmen, zwei Wochen Installation, eine Woche Inbetriebnahme. Das wären dann zwar immer noch sechs Wochen, in denen viele Menschen massiv eingeschränkt werden, aber nicht 17 Wochen.
Nein, ich habe kein Verständnis mehr …
Und da ich gerade dabei bin:
- Ich habe auch kein Verständnis dafür, dass unser Schulsystem immer noch soziale Aufstiege verhindert und dass Kinder „aussortiert“ statt gefördert werden.
- Ich habe kein Verständnis dafür, dass Funkabdeckung und Glasfaserausbau noch immer so schleppend vorankommen.
- Ich habe kein Verständnis dafür, dass ein Fernzug früh um 6:30 Uhr pünktlich bereitsteht und trotzdem mit 20 Minuten Verspätung losfährt.
- Ich habe kein Verständnis dafür, dass von Entbürokratisierung gesprochen wird und gleichzeitig die Auflagen von Jahr zu Jahr komplizierter werden. Immer weniger Menschen arbeiten – und immer mehr Menschen planen, beaufsichtigen und dokumentieren.
„Seit der Erfindung der„Steuererklärung auf einem Bierdeckel“ im Jahr 2003 wurden wahrscheinlich mehr komplexe Steuerregeln als Bierdeckel produziert.“
Ein „neues Deutschland-Tempo“?
Was mir etwas Hoffnung macht: in seltenen Fällen, in echten Notfällen, kann unser Land anders. Während der Corona-Pandemie wurden Gesetze innerhalb von Tagen erarbeitet und verabschiedet. Das Flüssiggas-Terminal in Wilhelmshaven wurde nach 194 Tagen Bauzeit fertig gestellt, Bundeskanzler Olaf Scholz sprach vom „neuen Deutschland-Tempo“. Aber dort, wo keine echten Notfälle vorliegen, ist weiter Behäbigkeit angesagt, Absicherung und Vermeidung jeden Risikos.
Vielleicht nimmt meine Geduld mit den Jahren ab und ich werde ungeduldiger. Ein wenig „neues Deutschland-Tempo“ würde ich gern überall sehen. Wir zahlen vergleichsweise hohe Gehälter – dafür erwarte ich auch gute und schnelle Arbeit.
Ist das zu viel verlangt? Oder ein angemessener Wunsch für das neue Jahr?
Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz
Chefredakteur Industry atp magazin
atp@TAUTOMATION.consulting