Jonas Völker, Redaktionsleiter des atp magazin, wagt in dieser Woche einen Exkurs in die Digitalisierung der Medizin und stellt Ihnen „Digital BioTwins“ vor.
Stellen Sie sich vor …
… Sie sind auf Ihrer Lieblings-Joggingstrecke unterwegs, stemmen Gewichte im Fitnessstudio oder rasen auf Ihrem Rennrad über die Landstraßen. In jedem Fall geben Sie alles und gehen an Ihre Grenzen!
Jetzt stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihrem Herzen bei diesen Anstrengungen zuschauen, ohne die Jogging-Schuhe zu schnüren, die Langhantel in die Hand zu nehmen oder das Rad aus dem Keller zu holen.
Genau das ist das Ziel des Beratungsunternehmens TATA Consultancy Services (TCS) und den sogenannten „Digital BioTwins“. Statt „herkömmlicher“ Digitaler Zwillinge von Anlagen oder Maschinen, die wir aus der Industrie kennen, stehen hier virtuelle Abbilder von Menschen, bzw. im ersten Schritt von unseren Organen, im Fokus.
TCS möchte den Digital Twin nutzen, um „eine brandneue Möglichkeit für Sportler zu schaffen, ihre Gesundheit und Leistung zu messen und ihr Training zu verändern“, wie das Unternehmen auf seiner Website erklärt.
Das digitale Herz von Des Linden
Für das Projekt konnte auch die US-Langstreckenläuferin und Olympionikin Des Linden gewonnen werden, die ihr Herz nicht nur sprichwörtlich in die Hände der Forschenden gab. Mithilfe von MRT-Daten sowie verschiedenen historischen und spekulativen Datensätzen wurde in einer virtuellen Umgebung ein funktionierendes digitales Herz der Athletin modelliert. Dieser Datensatz kann sogar mittels 3D-Druck zu einem echten physischen Objekt werden.
Viel wichtiger aber: Nun kann simuliert werden, wie sich Ihr Herz bei bestimmten Anstrengungen verhält, bzw. in der Realität verhalten würde. So könnten Sie z. B. Effekte von Trainingsprogrammen nachvollziehen oder die Auswirkungen von Medikamenten.
TCS sieht das digitale Herz erst als den Beginn einer neuen „hochgradig realitätsnahen und computergestützten biologischen und biophysikalischen Forschung“. Vorstellbar seien in Zukunft sogar Digital BioTwins von „ganzen“ Menschen, so dass der digitale Zwilling von Des Linden z. B. auf einem Digital Twin einer Marathonstrecke trainieren könnte. Bei diesem virtuellen Training könnten dann unterschiedliche Parameter wie etwa das Wetter, die Streckenbeschaffenheit oder zu wenig Schlaf simuliert werden.
Digital Twin + KI + Cloud = Healthcare of the future?
Auch wenn das Projekt natürlich von der TCS-Marketingabteilung ordentlich aufgepumpt wird, ist der grundlegende Ansatz hinter den „Digital BioTwins“ faszinierend. Was das für die Gesundheitsversorgung der Zukunft bedeuten könnte, macht TCS ebenfalls deutlich:
„Eine Welt, in der medizinische Fachleute über digitale Zwillinge jederzeit wissen, was im Körper ihrer Patientinnen und Patienten vor sich geht, ist nicht mehr weit entfernt.“
Die Vorteile einer solchen vernetzten Echtzeit-Gesundheitsversorgung auf Basis digitaler Zwillinge liegen auf der Hand, hier nur einige Denkanstöße:
- Eine computergestützte Überwachung von Patienten könnte helfen, medizinische Notfälle vorauszusehen und zu verhindern, quasi Predictive Maintenance für uns Menschen.
- Dank der Echtzeitdaten aus der Realität wäre eine verbesserte Gesundheitsvorsorge möglich.
- Die Digital BioTwins könnten bei der Erforschung der Wirksamkeit von Medikamenten und Therapien helfen.
- Neue Operationstechniken können am digitalen oder 3D-gedruckten Modell ganz ohne Risiko geübt werden.
Aber die Datensicherheit?!
So gut das in der Theorie erst einmal klingt müssen Sie natürlich bedenken: Wenn der Digital BioTwin trainiert, tun das unsere echten Körper nicht. Von ausreichend Bewegung und gesunder Ernährung befreit uns die Technologie in diesem Fall also leider nicht. Schade.
Außerdem bleibt die Frage, wie so eine Echtzeit-Gesundheitsversorgung hierzulande mit Blick auf die Cyber- und Datensicherheit realisiert werden soll. Schon eine digitale Patientenakte bringt uns regulatorisch an die Grenzen.
Und schlussendlich: Würden Sie Digital Twins Ihrer Organe gut finden? Darf Technik so weit gehen, wie sie kann? Wo liegen die ethisch-moralischen Grenzen?
Aber diese Diskussion würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen.
Jonas Völker
Redaktionsleiter atp magazin
j.voelker@vulkan-verlag.de