Deutschlands Digitalisierung ist zu langsam. Während die Welt sich rasant verändert, braucht das Land zu lange für die digitale Transformation. Warum ein Re-Start mit mehr Innovation, digitaler Souveränität und einem eigenständigen Digitalministerium dringend nötig ist, hat der Digitalverband Bitkom in einem Neustart-Papier zusammengestellt, das anlässlich der Bundestagswahl Ende Februar zum kostenlosen Download zur Verfügung steht.
Digitalisierungstempo stagniert, Neustart-Papier zeigt Herausforderungen
Deutschland tue sich weiterhin schwer, zu den Vorreitern der Digitalisierung aufzuschließen. Das gelte für die Wirtschaft, große Bereiche der Gesellschaft wie unser Bildungswesen und im Besonderen für die Verwaltung. Von den 334 Digitalvorhaben, die sich die bisherige Bundesregierung in der laufenden 20. Legislaturperiode vorgenommen hatte, sind dem Bitkom zufolge nach drei Jahren nicht einmal ein Drittel abgeschlossen. Das koste Vertrauen in den Staat und seine Institutionen und belaste den Standort Deutschland, seine Unternehmen und die Menschen, die hier leben.
Die Politik müsse laut Bitkom wieder unter Beweis stellen, dass sie handlungsbereit und handlungsfähig sei, Herausforderungen und Probleme zu erkennen, anzugehen und zu lösen – für die Menschen und Unternehmen in diesem Land. Die letzte große Reform liegt mehr als 20 Jahre zurück. Seitdem trete Deutschland auf der Stelle, während sich die Welt um uns herum massiv verändert hat – und sich weiterhin verändern wird. Einige wesentliche Herausforderungen hat der Bitkom in seinem Neustart-Papier zusammengestellt:
- Die Wirtschaft schrumpft, mehrjährig. Deutschland hat das geringste Wachstum innerhalb der Eurozone und unter den G7-Staaten. Im weltweiten IMD-Standort-Ranking sind wir binnen zehn Jahren von Platz 6 auf Platz 24 gefallen – mit Defiziten vor allem bei Innovation, Regierungseffizienz und Infrastruktur. Deutschland ist unterinvestiert und überreguliert.
- Die Anforderungen an den Staat steigen – und gleichzeitig wird das Geld knapp. Unser Staat und seine Verwaltungen sind nicht auf der Höhe der Zeit, infrastrukturell und technologisch, aber auch was die internen Strukturen und Prozesse betrifft. Die mangelnde Verwaltungsmodernisierung erzeugt nicht nur beim Staat sondern ebenso bei den Unternehmen Kosten ohne Nutzen und treibt die Bürgerinnen und Bürger zuweilen zur Verzweiflung. Deutschlands analoge Verwaltung ist ein massiver Standortnachteil.
- Der Druck von außen steigt. Multiple Krisen, Kriege und hybride Bedrohungen erfordern von Deutschland Einsatz, Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit zu technologisch souveränem Handeln, im EU-Verbund.
- Das Land braucht eine Zukunftsvision. Die Bewahrung des Status quo taugt in einer Multi-Krise, wie wir sie derzeit erleben, nicht als politisches Programm. Statt Altes zu schützen, muss Deutschland vor allem Neues schaffen. Wir brauchen Zuversicht und einen Nordstern: Wo soll Deutschland in fünf und zehn Jahren stehen?
Bitkom veröffentlicht Neustart-Papier
Deutschland brauche daher einen Neustart. Wir müssten wieder ein Land mit Lust auf Zukunft werden, mit einer Vorstellung davon, wohin wir steuern, mit guten, innovativen Ideen, mit Freude aufs Neue. Politik müsse die Menschen wieder mitreißen. Damit das gelingen könne, müssen die Grundlagen stimmen: Deutschland brauche wirtschaftliches Wachstum für gesellschaftlichen Zusammenhalt und staatliche Leistungsfähigkeit. Vor allem auch im Cyberraum gelte es für mehr Sicherheit zu sorgen. Der Bitkom hat dazu konkrete Vorschläge zusammengestellt.
1. Föderung der Wirtschaft
Deutschland braucht wieder mehr Wachstum, wirtschaftliche Dynamik und Lust auf Innovationen.
- Wir müssen die Überregulierung beenden und Unternehmen – Startups ebenso wie Mittelständlern und Großkonzernen – mehr Raum für unternehmerische Kreativität, Innovation und Wachstum geben. Dazu gehört, die Übererfüllung von EU-Vorgaben zu beenden. Europäische Richtlinien sollten künftig 1:1 in nationales Recht umgesetzt werden. Kollidiert eine EU-Regelung mit bestehendem nationalem Recht, sollte die bestehende Regelung an EU-Recht angeglichen werden, nicht umgekehrt. Gleichzeitig müssen Berichtspflichten deutlich reduziert werden, mindestens um die von der EU-Kommission angestrebten 25 %.
- Wir müssen Kapital für unsere Unternehmen mobilisieren – für die jungen wachstumsorientierten ebenso wie für die Transformation des Mittelstands. Für Startups muss der Zugang zu Wagniskapital einfacher werden, etwa durch eine Stärkung des Kapitalmarkts und Fondsstandorts oder die Weiterentwicklung des Zukunftsfonds. Superabschreibungen auf Digitalinvestitionen würden einen massiven Investitionsschub in Zukunftstechnologien anstoßen und gerade den Mittelstand digitaler und wettbewerbsfähiger machen. Wir schlagen 175 % Abschreibungsquote auf Investitionen in digitale Güter und Sachwerte vor.
- Wir müssen den strukturellen Fachkräftemangel lindern. Bis 2040 werden der Wirtschaft ca. 663.000 IT-Fachleute fehlen, sofern wir nicht gegensteuern. Deutschland braucht zusätzlich zur Mobilisierung allen inländischen Potentials auch qualifizierte Zuwanderung. Die Bundesregierung muss die Wirtschaft daher beim Werben um die klügsten Köpfe aktiv unterstützen und eine Kampagne zur Anwerbung ausländischer IT-Fachkräfte starten. Der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt muss auch für Nicht-EU-Ausländer stark vereinfacht werden. Dazu müssen Visumsverfahren komplett digitalisiert und Ausländerbehörden zu Willkommensagenturen für die Top-Fachkräfte dieser Welt umgebaut werden.
2. Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken
Dies gelte besonders auch im digitalen Raum. Damit das gelingt, müssen wir die Gesellschaft fit fürs digitale Zeitalter machen und die digitale Teilhabe und Kompetenz massiv fördern.
- Die Stärkung der Medienkompetenz ist der Schlüssel für gesellschaftliche Resilienz gegen hybride Angriffe und damit auch für eine wirklich wehrhafte Demokratie. Eine Bundeszentrale für digitale Bildung könnte unter anderem für die „Digitale Grundbildung“ ähnlich dem österreichischen Modell sorgen und allen Menschen in Deutschland grundlegende Kompetenzen im Umgang mit Fake News und Desinformationen vermitteln. Schulische Bildung muss digitale Basiskompetenzen für alle Schülerinnen und Schüler jeglicher Schulformen entwickeln. Die bundesweite Verankerung eines Pflichtfachs Informatik ab Sekundarstufe I würde obendrein dazu beitragen, mehr Mädchen für technologische Entwicklungen zu begeistern. Die Bundesregierung sollte dazu eine Initiative mit den Ländern starten.
3. Sicherheit & Resilienz verbessern, auch im Cyberraum.
- Wir brauchen leistungsfähige und sichere digitale Infrastrukturen. Sie sind – auch im Krisenfall – unser kommunikatives Rückgrat und Basis der Arbeitsfähigkeit von Unternehmen, Organisationen und öffentlichen Einrichtungen. Der Ausbau redundanter Breitband- und Mobilfunknetze sollte deshalb Ziel deutscher Infrastrukturpolitik sein. Dies würde nicht nur die Verfügbarkeit von Kommunikationsleistungen weiter verbessern, es würde auch die Resilienz der deutschen Netze gegenüber digitalen und physischen Angriffen von außen deutlich stärken. Hierzu müssen Multimilliardenbeträge privaten Kapitals aktiviert werden. Dies gelingt nur durch eine konsequente Beseitigung bürokratischer Ausbauhindernisse, langjährige Planungssicherheit und einen Regulierungsrahmen, der Investitionen nachhaltig incentiviert.
- Der deutsche Staat muss im Ernstfall handlungsfähig sein. Strukturen und Kompetenzen unserer Cybersicherheitsbehörden orientieren sich aktuell noch ausschließlich an den Bedarfen der ruhigen letzten Dekaden. Jetzt gilt es, u.a. durch die Abschaffung des Verbots der Mischverwaltung das BSI in die Lage zu versetzen, Maßnahmen zur Stärkung der Cybersicherheit bundesweit vorzunehmen und zu koordinieren.
- Wir müssen unsere digitale Souveränität stärken. Wir müssen unsere Fähigkeiten in digitalen Schlüsseltechnologien gezielt weiterentwickeln und in einigen kritischen Bereichen die weltweite Technologieführerschaft halten bzw. erlangen. Dabei geht es nicht um Autarkie, sondern um die Möglichkeit zu selbstbestimmten Entscheidungen und um die Fähigkeit zu adäquaten Reaktionen auf technologische Erpressungsversuche und Bedrohungen durch den Entzug des Zugangs zu Technologien, die wir in Deutschland zwingend brauchen, aber nicht selbst beherrschen.
4. Modernisierung des Staates
… durch digitale Verfahren und eine digitale Governance in Bund und Ländern.
- Deutschland braucht ein eigenständiges Digitalministerium, das viele der derzeit auf BMI, BMWK, BMBF, BMDV und weitere Ressorts verteilten Kompetenzen bündelt. Mit Hessen gibt es dafür auch innerhalb Deutschlands einen Vorreiter. Ein echtes Digitalministerium braucht umfassende Rechte und Ressourcen, ein Digitalbudget und einen Digitalvorbehalt in der Gesetzgebung.
- Durch einen Digitalcheck sollte künftig jedes Gesetzesvorhaben parallel zum legislativen Prozess hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Digitalisierung überprüft und nötigenfalls entsprechend korrigiert werden.
- Modernisierte Register und digitale Identitäten sind der Schlüssel zu einem modernen Staat mit effizienten digitalen Prozessen. Registermodernisierung und digitale Identitäten müssen oberste Priorität genießen – sie sind echte Hebelprojekte, die weit über ihren unmittelbaren Bereich Wirkung entfalten. Damit wir hier besser vorankommen, sollte jährlich ein fester Anteil von einem Prozent des Bundeshaushalts in die Modernisierung der Verwaltungen und des öffentlichen Sektors investiert werden.
Deutschland müsse wieder auf Sieg statt nur auf Platz spielen: Wir müssen den Anspruch haben, in der digitalen Wirtschaft weltweit ganz vorn mitzuspielen und in einigen Schlüsseltechnologien den Spitzenplatz zu erreichen, so z.B. in der digitalen Medizin, der smarten Mobilität und der IT-Sicherheit. Unsere Verwaltungen müssen durchgängig und ausschließlich digital arbeiten und ihre Dienste für Unternehmen und Privathaushalte durchgängig digital anbieten. Auf diesem Weg in die digitale Welt müssen wir alle Menschen mitnehmen. Dafür braucht es einen Nordstern und einen Re-Start.
Konkrete Ideen für den Weg ins digitale Deutschland liefert dieses Papier, das anlässlich der Bundestagswahl am 23. Februar zum kostenfreien Download zur Verfügung steht:
Zum DownloadBitkom-Präsident bekräftigt im Neustart-Papier Forderung nach einem Digitalministerium
Wintergerst: „Wichtig ist, dass die künftige Bundesregierung nach den Wahlen schnell ihre Arbeit auf- und die Digitalpolitik in den Fokus nimmt. Wir brauchen weniger Regulierung und stattdessen mehr Investition und mehr Innovation.“
Um erstens die Wirtschaft anzukurbeln, brauche es die Mobilisierung von mehr Kapital für die Unternehmen sowie eine Linderung der IT-Fachkräftemangels. Nötig seien zweitens eine Überarbeitung der staatlichen Strukturen und eine konsequente Digitalisierung der Verwaltungen mit modernen Registern und zudem digitalen Identitäten. Und drittens brauche es in der nächsten Legislaturperiode ein Digitalministerium: „Echter Fortschritt wird nur erreicht, wenn es innerhalb der nächsten Bundesregierung einen Antreiber für die Digitalthemen gibt. Die Zeit ist reif für ein eigenständiges Digitalministerium, das digitalpolitische Zuständigkeiten bündelt und die Digitalpolitik effektiv vorantreibt“, betont Bitkom-Präsident Wintergerst.
„Dieses Ministerium sollte sich auf die zentralen Aufgaben und die Querschnittsthemen der Digitalpolitik konzentrieren und darf kein Anhängsel eines anderen Ressorts sein.“ Und viertens müsse Deutschland digital Souveräner werden und sich aus einseitigen Abhängigkeiten lösen. Es brauche eigene Fähigkeiten bei Schlüsseltechnologien wie der Mikroelektronik, der IT- und Cyber-Sicherheit, der KI, dem Industrial Metaverse und dem Quantum Computing, um auf den Weltmärkten eine führende Position einnehmen. Wintergerst: „Die nächste Bundesregierung muss unter Beweis stellen, dass sie handlungsbereit und handlungsfähig ist, Herausforderungen und Probleme erkennt, angeht und löst – insbesondere im Digitalen. Digitalpolitik muss in der kommenden Legislaturperiode zu einem Schwerpunkt werden.“
Weitere Informationen gibt es unter www.bitkom.org.