Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz, Chefredakteur Industry des atp magazins, erklärt, wie wir Engpässe in der Stromversorgung vermeiden könnten.
„Kein neuer Stromanschluss“
Im April schreckte mich die Meldung auf, dass die Stadtwerke Oranienburg „Neukunden derzeit nicht mit Strom versorgen“ und auch keine Leistungserhöhungen vorhandener Hausanschlüsse mehr genehmigen können. „Das darf doch nicht wahr sein“, habe ich gedacht. Stellen Sie sich vor: Es gibt Bauland, Sie haben eine Baugenehmigung – und können nicht loslegen! Nach einer Woche – und einem bundesweiten Aufschrei – kam die erlösende Mitteilung „Neue Hausanschlüsse wieder möglich“. Sie steht noch immer auf der Homepage der Stadtwerke. Mit großen grünen Haken für Anschlüsse für Wohnbebauung, Wärmepumpen und Ladeinfrastruktur.
Was war passiert?
Zu- und Umzüge sowie der verstärkte Einbau von Wärmepumpen und Ladestationen für Elektrofahrzeuge hatten zu einem erhöhten Strombedarf geführt. Bereits vor mehr als einem Jahr habe das Stadtwerk zusätzliche Kapazität am Umspannwerk des vorgelagerten Hochspannungsnetzbetreibers angefragt, diese habe jedoch nicht bereitgestellt werden können. Es wurde mit dem Bau eines eigenen Umspannwerks begonnen, das aber erst im Jahr 2026 fertiggestellt wird. Offensichtlich wurde jetzt eine Zwischenlösung gefunden – immerhin.
Wie kann so etwas passieren?
Ohne Details über die Vorgänge in Oranienburg zu kennen, drängen sich mir drei Gedanken auf:
- Wir haben keine Reserven mehr (oder zu kleine): Um auf Änderungen schnell reagieren zu können, muss man eine Reserve bereithalten. Das ist – sorry – gebundenes Kapital und kostet Geld. Aber die Reserve muss Änderungen im Verbrauch ebenso berücksichtigen wie die Möglichkeit, bei Bedarf dazuzukaufen.
- Wir sind zu langsam: Wenn ein Energieversorger ein neues Umspannwerk bauen will, wie lange dauert das? Ich vermute, dass die reine Bauzeit ein Jahr dauert. Dazu kommen Lieferfristen für die Komponenten. Das Ganze könnte also in anderthalb Jahren erledigt sein. Durch Grundstückssuche und -kauf, Planfeststellungsverfahren und Baugenehmigungen können allerdings leicht drei bis fünf Jahre dazukommen – zuzüglich eventueller Gerichtsverfahren. „Schnell“ geht also gar nichts.
- Wir denken nicht weit genug: Wenn ich keine Reserven habe und Änderungen viele Jahre dauern, muss ich entsprechend weit vorausschauen. E-Autos gibt es schon lange, bis 2019 hatten sie allerdings nur einen Marktanteil von 3 %. Ähnlich bei Wärmepumpen: Auch sie sind schon „ewig“ bekannt, werden aber erst seit wenigen Jahren in signifikanter Zahl eingesetzt. Bis 2016 waren es weniger als 50.000 Luft-Wärmepumpen im Jahr, 2022 schon das Vierfache. Konnte man damals so weit denken und daraus verantwortlich Unternehmensentscheidungen ableiten?
Was können wir alle daraus lernen?
Kommt Ihnen dieser Dreiklang „keine Reserve, zu langsam, nicht weit genug denken“ bekannt vor? Mir leider ja, mir fallen da sofort der Bau von Kindergärten, die Bundeswehr, die Autobahnen, die Eisenbahn, die Ausbildung von Fachkräften und vieles mehr ein.
Wie können wir das lösen? Wir müssen an allen drei Schrauben drehen:
- Reserven anlegen – auch wenn es Geld kostet
- Schneller werden – wir alle an unseren (Arbeits-)Plätzen
- Unternehmerischer Weitblick – auch mal an die Zukunft denken
Wir müssen alle drei Schrauben nutzen, denn wir stehen leider erst am Anfang von sich weiter beschleunigenden Entwicklungen. Zum Beispiel verfallen Autobahnbrücken noch immer schneller, als wir sie sanieren können.
Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz
Chefredakteur Industry atp magazin
atp@TAUTOMATION.consulting