Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz, Chefredakteur Industry des atp magazins, empfiehlt, planvoll ans Werk zu gehen und nicht auf Wunder zu warten.
KI-generiert
Glauben Sie an Wunder? „Nein, natürlich nicht“, werden Sie empört antworten. Wir wissen um den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. „Von nichts kommt nichts“, sagt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. (Oder, etwas präziser nach Wikipedia zitiert: „Wärme kann nicht von selbst von einem Körper niedriger Temperatur auf einen Körper höherer Temperatur übergehen.“) Für Wunder ist da kein Platz.
KI als Wunder?
Doch ich habe Zweifel, ob wir den Glauben an Wunder wirklich aufgegeben haben. Ich traf kürzlich einen Bekannten, seines Zeichens Verfahrensingenieur, auf dem Markt. Ich berichtete, dass mir meine Rolle als Consultant für Automatisierungstechnik und Industrie 4.0 viel Spaß macht. Und er erwiderte: „Ach, dann machst Du jetzt also auch KI?“
Offensichtlich setzte er „Automatisierungstechnik und Industrie 4.0“ mit der Künstlichen Intelligenz gleich. Das ist von der Sache her völliger Quatsch: Künstliche Intelligenz braucht Daten, zunächst zum Anlernen und dann zum Auswerten. Und wo sollen denn die Daten herkommen, wenn nicht aus den Automatisierungs- und Digitalisierungs-Systemen? KI ersetzt diese nicht, sondern baut auf ihnen auf. In der Pyramide ist KI ganz oben, und ohne die Automatisierungs- und Digitalisierungstechnik darunter kann sie überhaupt nichts. Schon gar keine Wunder bewirken.
Hoffen auf Wunder
Mir ging dieses Gespräch lange nach, denn es scheint mir symptomatisch zu sein für unsere Zeit: Statt heute die Grundlagen zu schaffen, reden wir mit Begeisterung über die Möglichkeiten in der Zukunft. Offensichtlich glauben wir doch noch an Wunder.
- Statt endlich Windkraftanlagen zu bauen, hoffen wir auf Wasserstoffheizungen (die vier Mal mehr grünen Strom brauchen würden).
- Statt endlich die Schulbildung zu verbessern, hoffen wir auf perfekt ausgebildete ausländische Spezialisten, die in unser kompliziertes Land kommen wollen.
- Statt endlich Wohnungen in den Städten zu bauen, hoffen wir, dass die Menschen aufs Land ziehen (und dadurch neuen Verkehr generieren).
- Statt endlich die betrieblichen Automatisierungs- und IT-Systeme zu verbinden (Connectivity) und auf dieser Basis Sichtbarkeit und Verstehen zu erreichen, träumen wir von prädiktiven oder adaptiven Anlagen (vergleiche Acatech Maturity Index, siehe hier.)
Schritt für Schritt und planvoll
Statt gedanklich „das Pferd von hinten aufzuzäumen“ und auf Wunder zu hoffen, sollten wir besser Schritt für Schritt nach einem guten Plan voranschreiten. Und dabei müssen wir drei Aspekte der Nachhaltigkeit zusammenbringen: Ökologie, Ökonomie und gesellschaftliche Nachhaltigkeit. Den letzten Begriff habe ich von Roland Bent im Gespräch für den „AUTOMATION Podcast“ gelernt (Spotify oder Amazon oder Apple): Wir müssen auch die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft berücksichtigen.
Am Beispiel der Windkraftanlagen: Geld allein reicht nicht, wir brauchen auch Planer, Genehmigungsbehörden, Fabriken, Handwerker – und eine gesellschaftliche Akzeptanz. Kluge Menschen haben ausgerechnet, dass die Energiewende bis 2035 machbar ist, wenn wir jedes Jahr 120 Milliarden investieren (was sogar gut angelegtes Geld wäre, wie die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY ermittelt hat). Wenn die Hälfte davon Personalkosten sind und man pro Mitarbeitenden 100.000 Euro jährlichen rechnet, bräuchte man 600.000 Mitarbeitende allein für die Planung, Herstellung und Montage der Windkraftanlagen. Das überfordert definitiv unsere „gesellschaftliche Nachhaltigkeit“. Und leider, leider wird es auch hier keine Wunder geben. Und in den anderen Beispielen auch nicht. Also, lasst uns realistisch planen und dann: kraftvoll ans Werk!
Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz
Chefredakteur Industry atp magazin
atp@TAUTOMATION.consulting