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Fast zwei Monate kalt

Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz, Chefredakteur Industry des atp magazins, erklärt, warum wir mit erneuerbaren Energien nur 85 % des Jahres heizen können.

von | 08.05.25

Mit erneuerbaren Energien das ganze Jahr heizen? Noch eher eine Utopie.
Foto: lovelyday12 - stock-adobe.com

Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz, Chefredakteur Industry des atp magazins, erklärt, warum wir mit erneuerbaren Energien nur 85 % des Jahres heizen können.

Energiewende: Ja, aber bitte ohne Selbstbetrug

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir so schnell wie möglich auf regenerative Energien umsteigen müssen. Aber wir sollten uns auch ehrlich in die Augen schauen und eingestehen, dass es leider noch immer zu viel Polemik (oder Dummheit) in der Diskussion gibt. Ein paar Beispiele ärgern mich wirklich:

  • „Solarzellen sind im Norden genauso wirksam wie im Süden“
    Dieser Satz stammt von einem Hochschulprofessor. Seine Begründung: Die höchste je gemessene Tagesproduktion einer Sonnenzelle sei am Nordpol entstanden, denn da habe die Sonne 24 Stunden am Tag geschienen und die Luft sei so schön klar gewesen. Die Tatsache mag stimmen, die Argumentation ist aber – pardon, Herr Professor! – schwachsinnig. Wenn im arktischen Sommer die Sonne 24 Stunden scheint, hat man Strom, in der kalten Polarnacht im Winter dafür keinen. Sehr beruhigend.
  • „Wärmepumpen haben Leistungszahlen von 3 bis 5“
    Die Leistungszahl einer Luft-Wärmepumpe hängt von der benötigten Temperaturdifferenz ab. Leistungszahlen von 3 bis 5 erreichen Wärmepumpen eher dann, wenn man sowieso kaum heizen muss. Für Gebäude ohne Wärmepumpe werden mindestens 55°C Vorlauftemperatur gebraucht. Bei 0°C Außentemperatur ist die Leistungszahl dann 2,2 – man heizt also zur Hälfte elektrisch. Bei -15°C sinkt die Leistungszahl auf exakt 1,0 – an strengen Wintertagen, die glücklicherweise selten sind, heizt man also ausschließlich elektrisch. Und den Strom dafür müsste man erst einmal haben und auch transportieren können.
  • „Wir müssen nur die Speicher intelligent nutzen“
    Viele private Wohnhäuser haben Speicher von 10 oder 20 kWh. Elektroautos verfügen bestenfalls über 100 kWh. Das ist – im Vergleich zum klassischen Stromverbrauch eines Haushaltes – viel und könnte genutzt werden. In der Praxis hilft es wenig: Im Sommer sind die Hausspeicher schon morgens voll – man verbraucht in der kurzen Nacht kaum Strom. Und im Winter braucht man in einem Altbau wegen der ineffizienten Wärmepumpe an kalten Tagen 100 kWh für die Hausheizung. Sprich: Morgens wäre der Autoakku leer. Und wo nichts zu verteilen ist, nützt auch eine noch so intelligente Steuerung nichts. Intelligente Automatisierung geht nur in dem Zeitbereich, der mit Speichern überbrückt werden kann – im besten Fall innerhalb eines Tages. Das wäre ein guter Beitrag, löst aber nicht das Problem der Heizung.
  • „Die Angst vor der Dunkelflaute ist übertrieben“
    Von Dunkelflaute spricht man, wenn es bewölkt und windstill ist, es also keinen Strom aus Photovoltaik und wenig aus Wind gibt. Dann sinkt die Quote der erneuerbaren Energien auf Werte um die 25 %. Ich habe die Daten des Jahres 2024 ausgewertet: an 55 Tagen lag Dunkelflaute vor (gemeinerweise zu 90 % im Winterhalbjahr von Oktober bis März). Das sind 15 % des Jahres – mit „grünem Strom“ können wir also nur an 85 % der Tage heizen (im Winter ist der Anteil noch kleiner). Im November gab es 14 Tage hintereinander Dunkelflaute! Wenn wir das mit Speichern überbrücken wollten, müssten wir einen halben Energiebedarf eines Wintermonats als Speicherkapazität schaffen – kaum vorstellbar. Auch unsere Nachbarländer werden uns die fehlende Kapazität nicht zur Verfügung stellen wollen und können (auch, weil Leitungen fehlen). Es hilft also nur, die unbeliebten „Residualkraftwerke“ zu bauen und mit Gas zu betreiben. Wenn wir es schaffen, diese wirklich nur an 55 Tagen zu betreiben, reduzieren wir unseren CO2-Fußabdruck enorm – müssen aber die doppelte Kraftwerkskapazität finanzieren. Und auf CO2-Neutralität kommen wir damit gar nicht, solange wir keinen grünen Wasserstoff haben.
  • Vorsicht, Mittelwerte!
    Es ist richtig mühsam, im Internet Tageswerte zu finden und auszuwerten. Und wenn man Daten von ganzen Jahren sucht, erhält man meist nur Wochen- und Monatswerte. Die Glättung verbirgt Effekte wie Dunkelflauten – und schon sieht alles viel freundlicher aus. Um die Problematik zu veranschaulichen: Wenn Sie an 85 % aller Tage genug zu essen haben, aber keine Speichermöglichkeit, sind Sie an 15 % der Tage hungrig. Da tröstet es Sie wenig, dass es im Monatsmittel genug zu essen gibt. Und Ihre Wohnung ist eben auch nur an 85 % aller Tage warm. Ich vermute, dafür gibt es keine breite Akzeptanz.
  • „Aber der Wasserstoff wird’s lösen“
    Wenn wir denn grünen, also aus grünem Strom erzeugten Wasserstoff hätten, könnte man damit das Erdgas ersetzen. Das setzt aber wegen des schlechten Wirkungsgrads der Elektrolyseure einen großen Überschuss an grünem Strom voraus. Der ist in Deutschland nicht in Sicht und wäre zwar in Wüstenstaaten denkbar, aber erst nach enormen Investitionen. Und Elektrolyseure müssen gut behandelt werden – man kann sie nicht mal eben hochfahren, weil die Sonne eine halbe Stunde scheint. Fazit: Ja, der Wasserstoff wird es lösen, aber nicht innerhalb der nächsten zehn Jahre.

Fazit: Realismus statt Wunschdenken

In diesem Beitrag habe ich nur die Versorgung von Privathaushalten diskutiert. Die anderen großen Sektoren wie Industrie und Verkehr sind noch viel komplexer. Und auch dort werden wir es nicht akzeptieren wollen und können, tage- oder wochenlange Abschaltungen zu haben.

Wie gesagt: Ich bin trotz allem der festen Überzeugung, dass wir so schnell wie möglich auf regenerative Energien umsteigen müssen. Aber wir sollten nüchtern und ehrlich sein und die Versorgungssicherheit gewährleisten, und das geht aktuell nur mit flexiblen Gaskraftwerken. Oder durch den ganz massiven Bau von Speichern.

Falls Sie bessere Ideen haben: Schreiben Sie mir bitte.

Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz
Chefredakteur Industry atp magazin
atp@TAUTOMATION.consulting

Bildquelle, falls nicht im Bild oben angegeben:

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