Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz, Chefredakteur Industry des atp magazins, denkt über die Herausforderungen und den Nutzen von Standards nach.
In den vergangenen Wochen bin ich auf dem Camino nach Santiago de Compostela gepilgert. Doch selbst dort lassen mich Fragen der Automatisierung und Technik nicht los. Sie werden sehen, warum.
Alle Pilger haben einen Pilgerpass, mit dem sie ihre Reise dokumentieren. Bei Herbergen, Hotels, Kirchen, Museen und Restaurants gibt es schöne, künstlerisch gestaltete Stempel, so dass man am Ende ein farbenfrohes und schönes Heft in den Hände hält. Genauer gesagt: Hätte, wenn sich alle an das Standardmaß für die Stempel halten würden, das durch den Pilgerpass vorgegeben ist: 4,5 cm breit, 3,3 cm hoch. Doch an Standards halten ist offensichtlich langweilig: Da gibt es runde Stempel mit 4,8 cm Durchmesser oder rechteckige mit 5,5 cm Kantenlänge. Das führt zu einem munteren Durcheinander – man kann es schön finden oder nicht.
Abweichungen von Standards
Mich erinnert das an viele Diskussionen über Standards, die ich in meinem Berufsleben oder in Beratungsgesprächen geführt habe. Natürlich gibt es manchmal aus guten Gründen keine Standards, weil die Anforderungen zu individuell sind. Aber dort, wo es sie gibt, werden sie häufig nicht eingehalten. Das kann an Unwissenheit liegen („Ich wusste nicht, dass es da eine Festlegung gibt“). Oder an der Überzeugung, dass der Standard für die jeweilige Aufgabe nicht passt. Oder an einem bewussten oder unbewussten Unwillen, sich an Standards zu halten. Das kann eine bewusste persönliche Note sein (siehe: Stempel im Pilgerpass) oder ein Not-invented-here-Syndrom („Ich kann es eh besser“) oder Arroganz („Gilt für mich doch nicht“). Als junger Ingenieur sagte ein Betriebsleiter zu mir: „Vergessen Sie alles, was Sie aus anderen Betrieben kennen. Hier bestimme ich!“
In der Technik begegne ich der Vielfalt verschiedener Lösungen für die gleiche Aufgabe immer wieder. Sie glauben gar nicht, wie viele Möglichkeiten es gibt, eine Reaktortemperatur zu regeln, einen Apparat zu sterilisieren oder einen Reaktor auszulegen. Wenn ich all das Geld bekäme, das Unternehmen durch diese Parallelarbeit verschwenden, könnte ich eine Stiftung „Zur Förderung der technischen Vielfalt“ gründen.
Nutzen von Standards
Aber ganz im Ernst: Mit Standards erreicht man mindestens vier Ziele:
- Einsparung von Zeit – das führt zu schnellen Projekten
- Einsparung von Geld – das führt zu günstigen Projekten
- Erhöhung der Qualität – bewährte Standards sind fehlerfreier als Unikate
- Basis für Industrie 4.0 – man kann gleiche Objekte besser auswerten und vergleichen als immer neue Kreationen.
Erstellung von Standards
Doch wie kommt man zu guten Standards? Das wäre eigentlich das Ergebnis einer individuellen Beratung, aber ein paar Mindestanforderungen kann ich allgemein nennen:
- Es braucht ein „Management Commitment“. Das Top-Management muss dahinterstehen, dass die Vorteile der Standards gehoben werden, und entsprechende Strukturen schaffen.
- Man benötigt die fachliche Kapazität für die Erstellung, aber vor allem die Pflege von Standards.
- Man braucht Praktiker aus Betrieb und Planung im Standardisierungsbereich und muss sie wieder in die Praxis rotieren lassen.
- Man muss Augenmaß bewahren, nur sinnvolle Sachen standardisieren und offen für Abweichungen und Verbesserungen bleiben.
Zwei Anmerkungen noch zum Schluss: Ich bin davon überzeugt, dass die Standards vom Owner-Operator kommen müssen und nicht vom Engineering-Dienstleister der jeweiligen Projekte. Projekt-Standards sind keine Betreiber-Standards und wirken sich sonst 30 Jahre lang aus.
Und: Wer keine Standards nutzt, erhält als Strafe ein Werk wie das (von mir sehr geschätzte) Deutsche Museum in München: Von jeder Technologie und jedem Gerät genau ein Exemplar. Das Wort „Synergie“ sollte man dann aber aus seinem Sprachschatz streichen.
Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz
Chefredakteur Industry atp magazin
atp@TAUTOMATION.consulting