Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz, Chefredakteur Industry des atp magazins, meint, dass wir sowohl ehrgeizige Ziele als auch realistische Planung brauchen.
Der Weg zum Gipfel
„Vor uns liegen die Mühen der Ebenen“, dichtete Bertold Brecht im Jahr 1949. Dieser sprichwörtlich verwendete Begriff ist für mich, weil ich gern in den Bergen wandere, etwas „flach“: Es gibt die Mühen des Aufstiegs. Wenn ich auf einen Gipfel will, muss ich bereit sein, diese Mühen auf mich zu nehmen. Dazu gehören frühes Aufstehen, Schweiß, eventuell Blasen und am nächsten Tag vielleicht sogar ein Muskelkater.
Zum Erfolg gehört aber auch, dass ich mir ein realistisches Ziel setze, das zu meinen Möglichkeiten passt, also:
- nicht zu hoch oder weit ist,
- keine gefährlichen, ausgesetzten Stellen aufweist und
- ohne Kletterausrüstung zu bewältigen ist.
Wenn ich planlos einfach losrennen würde, ist die Gefahr groß, dass ich den Gipfel nicht erreiche, sondern sehr frustriert und mit zitternden Knien zurückkehre.
Mühen des Aufstiegs zur Digitalisierung
An dieses Bild aus den Bergen denke ich oft bei der Digitalisierung. Manche Unternehmen setzen sich unrealistisch hohe Ziele („Konzernweit voll digital in fünf Jahren“), haben aber keinerlei Planung, keine Ressourcen, kein Geld. „Hoffen auf ein Wunder“ nenne ich das. Die Gefahr ist groß, dass sie ihr Ziel nicht erreichen und nur Schmerzen in den Beinen bekommen.
Andere „digitalisieren“ ziellos vor sich hin und machen allenfalls ein paar Leuchtturmprojekte zum Vorzeigen, damit Chefs glücklich werden und Unternehmenspräsentationen mehr beeindrucken. Offen gesagt: Dann soll man es besser ganz lassen. Denn es entstehen nur weitere Dateninseln und Schnittstellen, die Ressourcen binden und durchgängige Prozesse erschweren. Und obendrein lügt man sich etwas in die Tasche. Ausschlafen und im Tal Spazierengehen mag ja auch ganz nett sein, leider wird man dann früher oder später im Wettbewerb untergehen, weil man ineffizient wird.
Mühe des Aufstiegs in der Politik
Das Bild aus den Bergen können wir auch auf die Politik übertragen. Es nützt nichts, wenn die Politik starke Worte prägt (Zeitenwende, Technologieführer, Forschungsland, Bildungsgipfel) und dann gefühlt nur kleine Schritte ohne ein transparentes Konzept geht. Oder wenn das Team sich während des Aufstiegs zerstreitet. Und ziellos drauflos administrieren hilft uns auch nicht.
So oder so: auch in der Politik werden keine Wunder geschehen – ohne die Mühen des Aufstiegs kommen wir eben nicht voran. Bei meiner Wahlentscheidung am kommenden Sonntag werde ich daher darauf achten, wer sowohl realistische Ziele hat als auch die Hoffnung weckt, diese auch planvoll zu erreichen.
Dr.-Ing. Thomas Tauchnitz
Chefredakteur Industry atp magazin
atp@TAUTOMATION.consulting