Ein Digitaler Zwilling ist ein digitales Abbild eines physischen Objekts, Prozesses oder Systems, das dessen Zustand, Verhalten und Struktur in Echtzeit oder nahezu in Echtzeit widerspiegelt. Dieses Abbild basiert auf einem kontinuierlichen Datenaustausch zwischen der realen und der virtuellen Welt. Ziel des Digitalen Zwillings ist es, datengetriebene Entscheidungen zu ermöglichen, indem die physische Entität durch Simulation, Analyse und prädiktive Modelle virtuell begleitet und optimiert wird. Der Digitale Zwilling geht dabei weit über ein einfaches 3D-Modell hinaus: Er umfasst alle relevanten Merkmale, Funktionen und Wechselwirkungen und kann aktiv in Regelkreise eingebunden werden.
Technologische Architektur
Ein Digitaler Zwilling besteht aus mehreren Ebenen: der geometrischen Repräsentation, dem Verhaltensmodell und der Datenintegrationsebene. Die Geometrie stammt häufig aus CAD- oder PLM-Systemen. Das Verhalten wird durch physikalische, logische oder datengetriebene Modelle beschrieben – etwa durch Strömungs-, Temperatur- oder Materialsimulationen. Die Datenintegration erfolgt über IoT- oder IIoT-Plattformen, die kontinuierlich Echtzeitdaten aus der Anlage, Maschine oder Sensorik erfassen und in den Zwilling einspeisen. Dabei spielen offene Schnittstellen wie OPC UA, MQTT oder REST-APIs eine zentrale Rolle.
Die Modellierung erfolgt zunehmend modular und standardisiert, etwa über AutomationML, FMI (Functional Mock-up Interface) oder die Asset Administration Shell (AAS). In vielen Fällen ist der Digitale Zwilling mit einem KI-Modul kombiniert, um Zustände zu prognostizieren, Anomalien zu detektieren oder Optimierungsvorschläge zu unterbreiten.
Anwendungsfelder in der Automatisierung und Industrie
In der Industrie ermöglicht der Digitale Zwilling eine kontinuierliche, simulationsgestützte Begleitung von Anlagen und Prozessen über den gesamten Lebenszyklus hinweg – von der Planung über die Inbetriebnahme bis zum Betrieb und zur Wartung. Bereits in der Entwurfsphase kann durch virtuelle Inbetriebnahme (Virtual Commissioning) ein Zwilling des geplanten Systems erstellt werden, der Steuerungsfunktionen testet und Optimierungspotenzial identifiziert. Im Betrieb lässt sich mithilfe des Zwillings der Anlagenzustand überwachen, Veränderungen simulieren und Instandhaltungsstrategien planen.
In der Prozessindustrie wird der Digitale Zwilling zur Modellierung chemischer Reaktionen, thermischer Prozesse oder komplexer Regelkreise verwendet. In der Fertigungsindustrie lassen sich Produktionslinien vollständig virtuell abbilden, um Materialflüsse, Taktzeiten oder Energieverbräuche zu optimieren. Auch die Integration in MTP-basierte modulare Produktionsarchitekturen ist möglich, etwa zur standardisierten Orchestrierung von Prozessmodulen. In der Qualitätssicherung und in der Energieoptimierung liefert der Digitale Zwilling ebenfalls belastbare Simulationsdaten für Entscheidungen im Echtbetrieb.
Herausforderungen und Integration
Die erfolgreiche Implementierung eines Digitalen Zwillings erfordert eine konsistente Datenarchitektur, domänenspezifisches Modellierungswissen und leistungsfähige IT-Infrastrukturen. Besonders anspruchsvoll ist die semantische Verknüpfung heterogener Datenquellen, die aus unterschiedlichen Lebenszyklusphasen und Systemen stammen können. Hinzu kommen Anforderungen an Datenaktualität, Synchronisation, Interoperabilität sowie an Datenschutz und Cybersicherheit. Der Aufwand für die initiale Modellierung ist nicht zu unterschätzen, amortisiert sich aber über reduzierte Stillstandszeiten, effizientere Instandhaltung und kürzere Time-to-Market-Zyklen.
Schlussbetrachtung
Der Digitale Zwilling ist ein zentrales Werkzeug der industriellen Digitalisierung und eröffnet Möglichkeiten zur dynamischen, datenbasierten Steuerung von Prozessen und Anlagen. Für die Automatisierungs- und Prozesstechnik bedeutet er einen Paradigmenwechsel: weg von reaktivem Anlagenbetrieb hin zu vorausschauendem, modellgestütztem Handeln. Im Zusammenspiel mit IoT, KI, Cloud-Edge-Architekturen und offenen Standards bildet der Digitale Zwilling die Grundlage für selbstoptimierende, resiliente Produktionssysteme. Die Zukunft der Industrie liegt in der intelligenten Kopplung von Realität und Simulation – und der Digitale Zwilling ist dabei der Schlüsselbegriff.